Wohin steuert die Arbeitswelt? Interview mit der Soziologin Kerstin Jürgens
Welche zukünftigen Veränderungen in der Arbeitswelt erscheinen Ihnen besonders wichtig?
Schon seit einigen Jahren gibt es eine Spaltung in der Berufswelt: Zum einen haben wir Jobs, in denen Menschen sehr viel Gestaltungsspielraum haben. Zum anderen gibt es nach wie vor viele Beschäftigungsverhältnisse, in denen das nicht der Fall ist und Menschen mit rigiden Vorgaben und geringen Spielräumen konfrontiert sind. Es gibt eine Polarisierung, die in Zukunft weiter zunehmen könnte.
Wie ist insgesamt die Situation für Jugendliche, für die in den nächsten Jahren das Berufsleben beginnt?
Auch in Zukunft wird es Arbeitsbereiche geben, in denen Jugendliche um Arbeitsplätze konkurrieren und wo sie sich deshalb auch an die Rahmenbedingungen anpassen müssen – das wird gerade für den Bereich der niedrigen Qualifikationen gelten, weil hier viele Jobs im Zuge der Digitalisierung wegfallen. Jugendliche mit einer guten Ausbildung haben dagegen in Zukunft eine gute Ausgangsposition, weil Arbeitskräfte durch den demografischen Wandel knapper werden. Sie haben die Möglichkeit, gute Konditionen auszuhandeln – dabei muss es nicht unbedingt um Bezahlung gehen, sondern auch um Arbeitszeit oder Mitsprachemöglichkeiten.
In dem Film WORK HARD – PLAY HARD wird an mehreren Beispielen gezeigt, wie Unternehmen versuchen, Mitarbeiter/innen in die unternehmerische Verantwortung hineinzuholen und ihnen ein sehr umfassendes Engagement für die Ziele des Unternehmens abzuverlangen. Ist das ein Trend, der sich fortsetzen wird?
Gerade im Bereich der höher qualifizierten Arbeit ist das ein starker Trend, der auch in Zukunft zunehmen wird. Die Beschäftigten erhalten viele Möglichkeiten zur Selbstgestaltung der Arbeitsprozesse, sind umgekehrt aber auch mit vielen Fragen und Problemen konfrontiert, die sich bei der Gestaltung dieser Arbeitsprozesse ergeben und bei denen man früher vielleicht erwartet hätte, dass das ein Vorgesetzter regelt. Heute müssen sich Arbeitnehmer/ innen umfassender damit beschäftigen, was gute Arbeitsabläufe sind und wie man Ziele erreicht.
Was steckt hinter dieser Entwicklung?
Zum einen haben die Unternehmen einen großen Vorteil von dieser Art der Organisation, weil sie davon ausgehen können, dass die Mitarbeiter/ innen die Arbeitsprozesse selbst am besten steuern können, und weil viele von ihnen sich sehr stark bei der Lösung von Problemen engagieren. Auf der anderen Seite haben auch die Beschäftigten die Möglichkeit, sich umfassend einzubringen. Das Ganze kann ein gutes Zusammenspiel zwischen den Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden, es kann aber auch zu der Situation führen, dass die Beschäftigten mit den Selbststeuerungsprozessen überfordert sind. Dann wirkt sich dieses Freiheitsmoment sehr negativ aus.
Bedeutet das nicht auch, dass schon Berufsanfänger/ innen mit Anforderungen konfrontiert werden, auf die sie gar nicht vorbereitet sind?
Traditionell geht man davon aus, dass Akademiker/ innen recht gut darin geübt sind, Arbeitsprozesse völlig selbständig zu planen und zu organisieren. Für junge Menschen, die eine berufliche Ausbildung absolviert haben, gilt das nicht immer. Bei ihnen besteht dann die Gefahr einer Überforderung, wenn sie plötzlich über viele Dinge den Überblick behalten müssen, Prozesse zeitlich steuern sollen und auch noch für die Ausstattung eines Projektes oder für die Zuarbeit von außen alleinverantwortlich sind.
Aus diesem Grund wird es für junge Menschen immer wichtiger, dass sie neben formalen Qualifikationen auch Fähigkeiten wie Selbst- und Zeitmanagement mitbringen. Dieser Trend wird sich im Zuge der Digitalisierung noch verstärken. Junge Menschen müssen die Fähigkeit und die Bereitschaft erwerben, sich in ihrem Lebenslauf immer weiterzubilden. Sie müssen sich immer wieder fragen, ob die eigenen Fähigkeiten ausreichen oder ob man etwas draufsatteln muss. Wer weiß, wie man lernt, wird im Vorteil sein.
Haben Sie den Eindruck, dass das jetzige Schul- und Ausbildungssystem auf diese Herausforderungen vorbereitet ist?
Ich glaube, dass die Lehrpläne noch immer sehr stark auf die klassische Wissensvermittlung ausgerichtet sind. Schule sollte so organisiert werden, dass noch mehr Zeiträume da sind, in denen die Schülerinnen und Schüler experimentieren können, um sich in der Selbstgestaltung von Arbeitsprozessen zu erproben. Schulen leisten in dieser Hinsicht schon sehr viel, aber man sollte versuchen, die reine Wissensvermittlung zu reduzieren zugunsten von mehr Gelegenheit für das Ausprobieren von etwas Neuem und dem Erkunden eigener Fähigkeiten.
Wie sieht es in handwerklichen oder in sozialen Berufen aus?
Wenn Prozesse vernetzt und digitalisiert werden, dann fallen viele zuvor von Menschen erledigte Aufgaben weg; das trifft oft auch die „Büroberufe“. Es wird aber auch in Zukunft viele Bereiche geben, in denen sich gar nicht viel ändert. Denken Sie an die Pflege oder eine Friseurin – da kann Werbung oder Terminorganisation „online“ laufen, doch es geht weiterhin darum, Menschen die Haare schön zu machen. Aber egal in welchem Beruf: Überall wird Arbeit vernetzt und dafür brauchen alle Kenntnisse zum Umgang mit persönlichen Daten und Informationen über ihre Rechte.
Die Prognosen, welche und wie viele Jobs in Zukunft durch Automatisierung wegfallen, gehen weit auseinander. Worauf müssen wir uns einstellen?
Es ist in der Tat so etwas wie ein Blick in die Glaskugel. Wir können davon ausgehen, dass einfache Tätigkeiten und Prozesse, die sich in Algorithmen darstellen lassen, weiter zurückgehen, dass aber auch neue hoch qualifizierte Arbeitsplätze entstehen. Wenn es am Ende ein Nullsummenspiel ist, können wir uns freuen. Trotzdem kann es ja für den Einzelnen bedeuten, dass sein persönliches Arbeitsfeld verloren geht. Es wird deshalb wichtig sein, dass junge Menschen sich darauf vorbereiten, im Laufe ihres Lebens ihre Tätigkeiten zu verändern und sich weiterzuentwickeln. Die Politik muss Wege finden, solche Veränderungsprozesse zu begleiten.
Ganz global betrachtet: Sehen Sie der fortschreitenden Digitalisierung und ihren Auswirkungen eher optimistisch entgegen oder überwiegen Ihrer Meinung nach die Risiken?
Die Chancen der Digitalisierung sind ungemein groß. In der Arbeitswelt kann sich vieles zum Besseren wenden, weil wir uns zum Beispiel von anstrengenden und monotonen Arbeiten entlasten können. Auf der anderen Seite ist das kein Selbstläufer, sondern der Prozess muss politisch gestaltet werden. Die Frage, wovon wir in Zukunft leben werden, muss mit Blick auf die fortschreitende Automatisierung neu gestellt werden. Es ist außerdem wichtig, dass wir verstärkt auf die Persönlichkeitsrechte achten: So wie in der Freizeit gebe ich auch als Arbeitnehmer/in viele Daten preis und es muss geklärt werden, was mit diesen Daten passiert, wer auf sie Zugriff hat und wer mit ihnen Geld verdienen darf. Interview: Burkhard Wetekam
Aufgaben
- Lies das Interview und beantworte folgende Fragen:
• Warum spricht Kerstin Jürgens von einer Spaltung des Arbeitsmarktes?
• Worin sieht sie die Chancen der Digitalisierung? Wo liegen Grenzen?
• Wie verändern sich berufliche Anforderungen an junge Menschen?
• Welche Ideen hat sie für die schulische Bildung?
- Greife eine Aussage aus dem Interview heraus, die dir selbst besonders wichtig erscheint. Formuliere dazu Fragen, die du gerne beantworten würdest, und führe eine Internetrecherche durch. Halte die gefundenen Informationen fest und notiere die Quellen.
- Noch vor wenigen Jahrzehnten war es etwas vollkommen Normales, dass jemand sein Leben lang für ein einziges Unternehmen gearbeitet hat und sich die Tätigkeit im Laufe eines Berufslebens auch nur unwesentlich veränderte. Diskutiere mit deinen Mitschülern/innen die Vor- und Nachteile dieser alten gegenüber der heutigen und zukünftigen Arbeitswelt.